Unter der karolingischen Renaissance wird eine kulturelle Blütezeit des Frankenreichs unter Karl dem Großen verstanden.
Sie führte zur Erneuerung von Bildung, Literatur, Baukunst und Sprache.
Die Bezeichnung Renaissance
In der heutigen Zeit ist mit der Renaissance eher die Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts gemeint, in deren Verlauf die Europäer das geistige Erbe der griechischen Antike wiederentdeckten. Diese Ära hatte schließlich die Ablösung des Mittelalters zur Folge.
Nicht zu verwechseln mit der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ist die karolingische Renaissance des 8. und 9. Jahrhunderts, die zu einem zeitlich beschränkten kulturellen Aufblühen des Frankenreichs führte.
Eingeführt wurde der Begriff der karolingischen Renaissance durch den französischen Schriftsteller und Historiker Jean-Jacques Ampère (1800-1864). Im 20. Jahrhundert stellten einige Historiker den von Ampère geschaffenen Begriff jedoch wieder infrage, da die humanistischen Aspekte der Renaissance fehlten. Stattdessen wurden alternative Bezeichnungen vorgeschlagen wie ‚karolingische Erneuerung‘ oder ‚Bildungsreform‘ Karls des Großen.
Unstrittig ist jedoch, dass die karolingische Renaissance für Westeuropa von herausragender Bedeutung war.
Vorgeschichte der karolingischen Renaissance
In der Zeit der Merowinger befand sich die antike Stadtkultur zunehmend im Verfall. Gleiches galt für die Baukunst, Schriftkultur, Liturgie sowie die Organisation der Kirche. Außerdem gab es seit dem späten 5. Jahrhundert, also dem Ende des Weströmischen Reiches, auch kaum noch ein Schulwesen. Viele Priester waren aufgrund ihrer beschränkten Lateinkenntnisse nicht einmal mehr in der Lage, das Vaterunser zu beten.
Die antike Literatur, ja sogar die Literatur der Spätantike des Christentums, war fast völlig in Vergessenheit geraten. Auch Abschriften von antiken heidnischen Literaten gab es zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert in Westeuropa nicht mehr. Die Lebensweise des einstigen römischen Imperiums war im Westen mit ihm untergegangen.
Kulturelle Erneuerung durch Karl den Großen
Seit 771 war Karl der Große alleiniger König des Frankenreiches. Auf seinem Feldzug in Italien 773/74 erkannte Karl, dass sogar Laien dort in der Lage waren, klassisches Latein zu lesen. Dem fränkischen König wurde zugleich das gravierende Bildungsproblem im Frankenreich schmerzlich bewusst.
Ab dem Jahr 777 begann der Monarch an seinem Hof eine Vielzahl an Gelehrten aus Europa zu versammeln. Dazu zählte vor allem der englische Mönch Alkuin (735-804), der zu Karls wichtigstem Berater aufstieg. Weitere bedeutende Gelehrte waren der westgotische Bischof und Dichter Theodulf von Orléans (750 oder 760 bis 821), der langobardische Mönch und Geschichtsschreiber Paulus Diaconus (zwischen 725 und 730 bis 797 oder 799) sowie der Grammatiker und Dichter Paulinus II. von Aquileia (zwischen 730 und 740 bis 802).
Damit bewirkte Karl, dass seine Hofschule für mehrere Jahrzehnte zum Zentrum von Dichtung, Geschichtsschreibung und Theologie aufstieg. Von dort aus gelangten zahlreiche wichtige Anregungen in sämtliche Provinzen des Fränkischen Reiches.
Bildung
Der Schwerpunkt des Hofes lag in der Wiederbelebung, Pflege und Ausbreitung der Bildung. Zu den einzelnen Reformen gehörte u. a. das Einrichten einer Hofbibliothek. Sie enthielt sämtliche literarischen Werke, die seinerzeit zugänglich waren. Dabei handelte es sich um Schriften von antiken Autoren sowie der Kirchenväter.
Die Literatur wurde gesammelt und kopiert. Dazu zählten sowohl einfache Texte von Hand als auch aufwendige prächtige Ausstattungen von liturgischen Büchern, die sich nicht selten an die Traditionen der Spätantike von Rom oder Byzanz anlehnten.
Darüber hinaus wurde eine gesicherte Textfassung der Bibel erarbeitet. Sie fand als Alkuin-Bibel Verbreitung.
Die karolingische Minuskel
Als Minuskel wurde eine neuartige Buchstabenform bezeichnet. Sie brachte den Vorteil mit sich, besonders deutlich und klar auszufallen. Des Weiteren verfügte sie über Kleinbuchstaben.
Mithilfe der Minuskel war es nun möglich, Worte eindeutig voneinander zu trennen. Viele Abschriften, die in den Klöstern entstanden, gewannen dadurch an Qualität. Schließlich gingen aus dieser neuen Schrift auch die Kleinbuchstaben hervor, die sogar heute noch Verwendung finden.
Das Schaffen der Minuskeln ging auf die Auffassung Alkuins zurück, dass das rechte Leben mit der rechten Sprache untrennbar verbunden sei. Aus diesem Grund erfolgte eine Reform von Schrift und Sprache im Frankenreich.
Auch Karl der Große versuchte sich im Schreiben, hatte jedoch im Unterschied zum Lesen größere Schwierigkeiten damit. Es ist möglich, dass Karl das Einführen der Minuskelschrift förderte, um das Schreiben selbst besser lernen zu können.
Neben den Minuskeln entstanden auch Satzzeichen sowie Abstände zwischen Wörtern, Buchstaben und Sätzen. An Karls Hof in Aachen wurde außerdem eine Hofbibliothek eingerichtet. Um das „gute Sprechen“ zu unterstützen, verfassten die Gelehrten regelmäßig Gedichte.
Der karolingische Reichskalender
Mit Rom war auch der römisch-antike Kalender in Westeuropa untergegangen. Zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert existierten dort keine lateinischen Tageskalender mehr.
Zur Anwendung kamen noch Ostertafeln, Martyrologien sowie komputistische Schriften. Mit ihnen wurden der christliche Festkalender und die religiöse Erinnerungskultur bewahrt.
Um die Termine korrekt zu bestimmen, erfolgte das Verarbeiten von älteren astronomischen und komputistischen Schriften. Infolgedessen entstanden verschiedene karolingische Enzyklopädien zum Thema Zeitrechnung. Dazu zählten zum Beispiel die „Libri computi“ sowie der „Annalis libellus“.
Erlasse und Kapitularien
Weiterhin entstanden im Zuge der karolingischen Renaissance zahlreiche hoheitliche Anordnungen (Kapitularien) und Erlasse. Sie erteilten den Kirchen und Klöstern die Aufgabe, die „Litterae“ zu pflegen.
Miniaturen
Typisch für die karolingische Renaissance war zudem die Verwendung von Miniaturen in den Schriften. Dabei handelte es sich um Bilder, die beinahe sämtliche Handschriften dieser Zeit verzierten.
Die Arbeit im Skriptorium
Durchgeführt wurden die schriftlichen Arbeiten in einem Skriptorium. Darunter wurde eine Schreibstube verstanden, in der die Mönche Manuskripte abschrieben und damit vervielfältigten, was viele Stunden in Anspruch nahm. Als Schreibmaterial diente ihnen kostbares Pergament. Um Fehler zu vermeiden, war eine hohe Konzentration erforderlich. Nach der Fertigstellung des Textes fand das Hinzufügen der Miniaturen statt.
Eröffnung von Kloster- und Domschulen
Ein wichtiger Bestandteil der karolingischen Bildungsreform war das Eröffnen von Schulen in Klöstern und Domen. Diese Schulen mussten dort auf Anordnung Karls des Großen eingerichtet werden. Anschließend erfolgte Unterricht in den sogenannten sieben freien Künsten. Diese beinhalteten Rechnen, Geometrie, Gesprächsführung, Rhetorik, Grammatik, Musik und Astronomie.
Um echte Volksschulen handelte es sich bei den Kloster- und Domschulen allerdings nicht, da dafür gar nicht die Möglichkeiten vorhanden waren. Zwar standen die Schulen auch Laien aus den gehobenen Gesellschaftsschichten offen, doch wurden sie in erster Linie von den Geistlichen genutzt.
Der Mönch Alkuin
Regen Anteil an Karls Bildungsreform hatte der angelsächsische Mönch Alkuin, der berühmte Lehrbücher verfasste. Er war Verfechter einer Revision der Übersetzung der Heiligen Schrift sowie einer kritischen Redaktion von überlieferten Texten. Dank Alkuin ließ sich die lateinische Sprache verbessern und die Tradition dennoch pflegen.
Alkuin stieg zum Ersten Berater Karls in Wissenschafts- und Bildungsfragen auf. Von ihm wurde zudem der Reformerkreis zu einer Akademie organisiert, bei dem es sich auch um einen Freundschaftsbund handelte.
Das Bildungssystem der Karolinger hielt auch an, als ihr Reich im 9. und 10. Jahrhundert verfiel. So wurde von den Klosterschulen ausgezeichnete Arbeit geleistet.
Architektur der Karolinger
Die karolingische Renaissance beschränkte sich aber nicht nur auf das Bildungswesen, sondern weitete sich auf die Architektur und Kunst aus. So erhielt die Baukunst wieder mehr Bedeutung. Zu den wichtigsten Bauwerken aus der Zeit Karls des Großen gehörte die Aachener Pfalzkapelle. Deren selbstständiger Entwurf nahm sich als Vorbild die Kirche San Vitale, die in Ravenna im 6. Jahrhundert erbaut worden war.
Mit der Aachener Pfalz wollte Karl ein Gegenstück zu dem damals vorherrschenden Konstantinopel, der Hauptstadt von Byzanz (Ostrom), bilden und damit ein neues Rom schaffen. Als Vorbild für den sakralen Bau diente der Lateransplatz in Rom. Mit der Pfalzkapelle sollte das Kernstück der Pfalzanlage errichtet werden. Für den prächtigen Bau wurden Marmor und Säulen aus Rom und Ravenna nach Aachen transportiert.
Nachdem Karl im Dezember 800 in Rom zum Kaiser gekrönt worden war, zog er in die fertiggestellte Pfalz, die bis zu seinem Tode 814 zu seiner dauerhaften Residenz aufstieg.
Skulpturen
Karl ließ auch einige antike Skulpturen nach Aachen importieren, wie zum Beispiel die Reiterstatue von Theoderich sowie die Statue der antiken Bärin aus dem 2. Jahrhundert. Außerdem entstanden in Aachen neue Kunstwerke wie ein Adler mit drehbarem Kopf auf dem Palast, vier Bronzetüren und acht Emporengitter. Diese Erzeugnisse fielen qualitativ derart hochwertig aus, dass sie lange Zeit als Importe aus Rom galten.
Als Papst Hadrian I. im Jahr 795 verstarb, schickte Karl eine Grabplatte im antiken Stil nach Rom, um seiner zu gedenken. Die Platte setzte sich aus schwarzem Stein zusammen, der jedoch wie Bronze aussah. Als Vorbild diente wohl die Lex de imperio Vespasiani aus dem Jahr 69.
Das Grafschaftssystem
Auch bei der Neuregelung der fränkischen Gesellschaft blieb Karl nicht untätig. Um die zahlreichen Stämme seines Reiches, die miteinander rivalisierten, unter Kontrolle zu bringen, setzte er Grafen ein, die als oberste Verwaltungsbeamte ihres zugeteilten Gebietes dienten. Der Graf sorgte also für eine effiziente Verwaltung seiner Region.
Um die Grafen zu kontrollieren und Informationen auszutauschen, schuf Karl ein Nachrichtensystem aus Königsboten. Von diesen erhielt der Graf die Anordnungen des Kaisers, während Karl in Aachen auf Rückmeldungen wartete. Auf diese Weise band der Monarch die soziale Oberschicht seines Reiches wirkungsvoll in seine Herrschaft ein.
Bedeutung der karolingischen Renaissance
Für Westeuropa war die karolingische Renaissance von sehr hoher Bedeutung. So gelang es dank Karl dem Großen und seinem weisen Berater Alkuin, das Erbe der Antike neu zu beleben.
Weniger Interesse gab es allerdings für die meisten profanen antiken Skulpturen, weil das Christentum im Vordergrund stand, sodass diese noch rund 600 Jahre lang auf ihre Wiederentdeckung warten mussten, bis die eigentliche Renaissance einsetzte.
Zu verdanken war das Entstehen der karolingischen Erneuerung in erster Linie Karl dem Großen. Während seiner Anwesenheit in Italien entdeckte er die kulturelle Überlegenheit Roms, die er auf sein Frankenreich übertragen wollte. Um diesen Plan umzusetzen, bedurfte es eines Herrschers wie Karl, der den Willen und die entsprechenden Fähigkeiten dazu mitbrachte.
Innerhalb von 30 Jahren gelang es Karl, die Grundlagen einer neuen Blütezeit zu schaffen, die auch unter seinem Nachfolger noch andauerte. Dabei wurden hunderte wertvolle Handschriften kopiert sowie das Bildungswesen, Schrift, Sprache, Buchmalerei, Literatur und Baukunst gefördert.